1978 entstand ein Acrylglas-Objekt mit dem Titel AMO ERGO SUM. Es enthält 77 Acrylglas-Briefe, gefüllt mit Botschaften von mir und von anderen Menschen. Aus diesem Titel wurde im Laufe meiner künstlerischen Arbeit ein Lebensplan, den ich mit größtmöglicher Ausdauer zu verwirklichen trachte.
1988 drängte sich die Notwendigkeit auf, die letzten 20 Jahre in Form einer Publikation zu rekapitulieren bzw. zu dokumentieren. Als Ergebnis dieser Erinnerungsarbeit entstand die Trilogie AMO ERGO SUM mit ihren drei Teilen PORNOGRAFIE (Teil 1), IRONIE (Teil 2) und UTOPIE (Teil 3).
Diese Dreiteilung war in Anbetracht der Komplexität des Unterfangens nur eine Notlösung, ich fluktuiere daher bis heute permanent zwischen diesen drei Bereichen hin und her, mit der Absicht, eine dichtes, system-analysierendes Bezugsnetz zu weben. Konsequenterweise führt dies zu einer komplexen wechselseitigen Durchdringung aller drei Teile, was bedeutet, dass die PORNOGRAFIE ironisch und utopisch, die IRONIE pornografisch und utopisch und die UTOPIE pornografisch und ironisch schillert. In diesem Sinne wurde die Trilogie für mich die Ausgangsbasis und der Einstieg in ein Hypermedia-Projekt, welches für mich tagtäglich wieder faszinierend ist, weil es immer neue Verknüpfungen, Querverweise und (Zusatz)-Informationen selbst produziert bzw. von außen aufnehmen kann.
In der Einleitung zur Trilogie AMO ERGO SUM deute ich an, daß es mir in der UTOPIE nicht um Zukunftsvisionen geht, sondern um einen Weg ins Ungewisse. Es geht also um die Kunst des Gehens, um einen Zustand der permanenten Bewegung, Veränderung und Verwandlung. Auf dieser Wanderschaft habe ich erfahren, daß es die verschiedensten Möglichkeiten gibt, sich den sogenannten "Reiseerlebnissen" zu stellen. Ich kann sie umarmen oder im Staub zertreten, kann sie schlucken, verdauen oder wieder ausspucken, kann mich von ihnen führen oder schleifen lassen. Da ich dazu neige, einen friedlichen Zustand des Gemütes als Stagnation, als Wachstumsstillstand zu verdächtigen, habe ich mir eine Art von Erlebnisbewältigung angewöhnt, die ich eine "ironische" nenne. Irgendwie habe ich wohl geahnt, daß die IRONIE . und nur sie . mich vor der Übereinstimmung meines Ichs mit der Welt bewahren würde: DISCORDO ERGO SUM!
Sobald also die "unteren, mittleren und oberen Welten" scheinbar an Stabilität gewinnen, lasse ich die IRONIE kompromißlos als Störfaktor in sie eindringen . sie beginnen sich zu verzerren, zu zerbröckeln und ihre in gefährliche Sicherheit wiegende Gültigkeit zu verlieren. Ein Kampf beginnt zu toben, die Flammen lodern . was bleibt mir anderes übrig, als mich in das rettende, kühlende Meer von IRONIE zu stürzen, mit der Hoffnung, wieder an den Strand einer neu gefundenen Identität gespült zu werden?!
Die Angst vor der drohenden Gefahr, meiner eigenen Wirklichkeit total verlustig zu werden, ließ mich aber erkennen, daß diesem durchgehend ironischen Verhalten gelegentlich Einhalt geboten werden mußte. Wenigstens einem Bereich des Lebens sollte man mit gebührender Würde und mit Ernst betrachten. Und was drängt sich da heftiger auf als die . LIEBE?!
Ich habe daher meinem Lebensplan und Arbeitskonzept den Titel AMO ERGO SUM gegeben und mir versprochen, die LIEBE, diesen heiligsten Bereich des Lebens, als kontra-ironisches Tabu zu behandeln. Doch wie sehr habe ich mich getäuscht, mich selbst verkannt, die LIEBE mißverstanden. Denn was ist die LIEBE anderes als ein steter Wechsel von Selbstschöpfung und Selbstvernichtung, ein Sichfinden und ein Sichverlieren, und ist nicht eigentlich dieses Pendeln zwischen Geburt und Tod Ausdruck der IRONIE? Einer IRONIE, die sich im Spannungsfeld dieser beiden Pole erschafft und vernichtet, indem sie Distanz schafft und vernichtet.
So wurde mir klar, daß gerade die LIEBE das ureigenste und dankbarste Übungsfeld der IRONIE ist, enthüllen sich durch sie doch am eindrucksvollsten die menschlichen Absurditäten und Widersprüchlichkeiten. Einmal baden wir in einem rosaroten Gefühlstümpel, dann wieder versinken wir in bodenloser Verzweiflung. Heute verstopfen wir uns die Poren mit Liebeskleister, morgen kratzen wir ihn wieder mühsam ab, weil wir zu ersticken drohen.
Und so passiert es, daß die LIEBE, die alles verschmelzende, unendlich beglückende LIEBE, mit einem Male zum Tummelplatz der Eitelkeiten, des Pathos, der Obszönitäten und grausamsten Verletzungen wird.
Wenn man lernt, sich bei all dem gelegentlich "zuzusehen", auf Distanz zu gehen, lernt man das Fürchten . und das Lachen! Die IRONIE wird so Vorbote von Umbruchszeiten, Autbruchszeiten, ja Rebellion . und kann zum Ritt auf des Messers Schneide werden. Ob wir leichtfüßig über die scharfe Klinge tänzeln oder von ihr entzweigeschnitten werden, hängt davon ab, wie mutig wir sind.
Und das ist das Ironische an der IRONIE: überall dort, wo ich Gefahren und schmerzlichen Erkenntnissen ausgesetzt bin, ist mir die Ironie Waffe und Schutz zugleich. Sie führt mich in die Verzweiflung . und führt mich wieder heraus . vorausgesetzt, ich kann mich ihrer bedienen.
Sich der IRONIE richtig zu bedienen ist allerdings keine leichte Sache, denn sie hat viele Gesichter, narrt den Narrenden, versteht und mißversteht, vemeint und entzweit. Ein ironisches Verhalten ist daher zutiefst subversiv, ist ein An-Spielen, Vor-Spielen, Unter-Spielen, Mit-Spielen, ist Angriff und Abwehr, eine Selbst-Behauptung . und eine Selbst-Enthauptung: meinen eigenen Kopf am eigenen Schopf vor mich hertragend, kann ich die Welt mit der nötigen Distanz und aus verschiedensten Blickwinkeln betrachten. Die Blutspuren sind meine Wegweiser, und mit einem schmerzlich-wehmütigen Lächeln um die fahlen Lippen versichere ich mir, daß die IRONIE eben ein gefährliches Spiel mit Extremen ist . und ein dialektischer Akt, der Getrenntes letztendlich wieder miteinander verbindet.
(Sandor Ferenci)
Wie wir wissen, sind der pornographische oder obszöne Witz und die Zote seit langer Zeit eine Domäne des Mannes. Man amüsiert sich über Männerwitze, aber der "Frauenwitz" hat noch kein gesellschaftliches Äquivalent erlangt und wird unter patriarchalen Lebensbedingungen nur eine subversive Außenseiterrolle erringen können. Denn wie Freud für unsere Kultur richtig erkannte, sind der immer tendenziöse, schmutzige, pornographische Witz und die Zote "ursprünglich an das Weib gerichtet". Der witzige Mann erscheint als der hauptsächliche Angreifer, während die Frau konservativer, hauptsächlich als Objekt dieses Angriffes erscheint. Sie ist Objekt, der Mann Subjekt einer sexuellen Entblößung und Aggression, die vor allem Lust bereitet. Die Lust, das Sexuelle entblößt zu sehen, ist für Freud das ursprüngliche Motiv des Witzes und der Zote. Sie stehen im Dienst der "Befriedigung eines Triebes (des lüsternen .)" gegen die "Verdrängungsarbeit der Kultur". Im Witz und in der Zote verschafft sich das Individuum ein Ventil gegen den kulturell herrschenden Lustverzicht und Leidensdruck. Im Gegensatz zu seiner allgemeinen Kulturtheorie der Sublimation bestimmt Freud (in seiner Schrift über den "Witz und seine Beziehung zum Unbewußten", 1905) Witz und Zote positiv als Mittel, die Verdrängung und Zensur des Sexuellen rückgängig zu machen und damit das Verlorene wiederzugewinnen.
Wer der Ausdrucksformen des Witzes und der Zote nicht mächtig ist oder sie verschmäht, ist auch in seiner Lust eingeschränkt. Dies betrifft die weiblichen Menschen unserer Kultur in einem ungleich höheren Ausmaß als die männlichen. Der kulturelle Verdrängungsprozeß gegenüber dem Sexuellen ist allerdings auf beide Geschlechter verteilt, aber wie das Defizit an Frauenwitzen oder vielmehr ihr gänzliches Fehlen zeigt, sind in erster Linie die Frauen die Träger und Opfer der allgemeinen Verdrängung.
Renate Bertlmann gehört zu jenen Künstlerinnen, die auf dem Hintergrund dieser Reflexion unsere besondere Aufmerksamkeit verdienen oder vielmehr provozieren. Ihre antipornographischen Objekte und Montagen regen zum Lachen an, zunächst weniger oder kaum die Männer, die hier ausnahmsweise einmal die Objekte der sexuellen Entblößung und Aggression geworden sind und bei dieser Gelegenheit lernen können, über ihren eigenen Schatten zu springen: ihr gekränktes Selbstgefühl zu verleugnen und sich vom ungewohnten "Frauenwitz" entwaffnen zu lassen.
Angesichts der vielen phallischen Karikaturen, der treffsicheren Satire auf den männlichen Narzißmus und seine Omnipotenzphantasien, fragt sich, ob Renate Bertlmann dem Witz und der Zote nicht ein neues Terrain erobert hat, das der Frau ermöglicht, die lustbetonte Aggression des Mannes ebenso lustvoll zu beantworten. Die Künstlerin geht hier mit gutem Beispiel voran in gänzlich respektlosen, die selbstbewußte virile Genitalität bloßstellenden Objekt- und Bildmontagen, denen man nichts mehr von der noch bei Freud diagnostizierten, für ihn kulturell durchaus wertvollen, sensiblen "Unfähigkeit des Weibes, das unverhüllte Sexuelle zu ertragen", anmerkt. Bertlmanns "Präservativwurfmesser", die zwei Penisschäften nachgebildete Steinschleuder, der mit ausgestopften Gummipräservativen bestückte Patronengürtel, die zum Votivbild erkorene "Reliquie des Heiligen Erectus" sind eine doppelte Kampfansage gegen die pornographische Gewalt des Mannes und sein Lustprivileg in der patriarchalen Gesellschaft.
Im allgemeinen gibt sich die Frau dem anzüglichen Männerwitz gegenüber völlig passiv, sprach- und ausdruckslos. Der weibliche Mensch reagiert gewöhnlich in der für ihn kulturell vorgesehenen Märtyrerhaltung des weiblichen Objekts, das indigniert oder peinlich berührt zur Seite blickt und sich vom Ort der obszönen Provokation zurückzieht. Gegen diesen Rückzug meldet Renate Bertlmann den Protest der feministischen Frauen an, aber sie tut als Künstlerin auch etwas dafür, daß dieser Protest nicht abstrakt, nicht im theoretischen und moralischen Argument stecken bleibt, sondern ebenso seine lustbetonten Ventile bekommt.
In den Karikaturen, welche die obligate Herrengesellschaft in ihren maßgeblichen Repräsentanten aufs Korn nimmt und den Manager, den Kleriker, das Militär, die grauen Eminenzen und religiösen Propheten ebenso wie die ganze heran gezüchtete Brut der Stammhalter auf einen gemeinsamen phallischen Nenner bringt, schwingen bei aller Anklage und Kritik auch pointierter Witz und Lust am Austeilen, ein gesunder Sadismus mit. Diese Zweigleisigkeit der Karikaturen macht sie überhaupt erst künstlerisch genießbar und von feministischer Rhetorik unterscheidbar. In dem Maße, wie sich die Karikatur bei Bertlmann auf ihr Objekt, den Mann und seine Sphäre konkret einläßt, wird die Angst davor geringer, wird ein Stück mehr an Verdrängung und Zensur weiblicher Lust rückgängig gemacht. Diese befreiende Wirkung ist das Entscheidende, nicht das Erlernen einer Aggression, die dem ubiquitären Männerwitz nachgebildet ist und mit gleicher obszöner Münze zurückzahlt, was den Frauen angetan wird.
Das neue Terrain, das Renate Bertlmann dem "Frauenwitz" in der geschlossenen Männergesellschaft erschlossen hat, geht keine Konkurrenz mit der rüden, gewaltförmigen, im Grunde humorlosen Pornographie ein. Dafür bürgt die poetische Verfremdung, mit der die Künstlerin die Artefakte und Relikte männlicher Lust, voran die zum imposanten, herrschaftlich dekorierten Folterinstrumentarium erweiterte Präservativsammlung, auseinander nimmt und neu zusammensetzt. Dieses Derangement hält kein Mann aus. Die Verdichtung von "Männerschwanz" und Schmetterling ("Diverse Farphalle Impudiche"), der zum Luftballon aufgeblasene oder auf der Wäscheleine trocknende "Männerschutz" ("Der Waschtag"), die zu bunten Kunstblumen aufgesteckten, ohnedies bizarren, als Händchen oder Hahnköpfchen stilisierten "Rauhpräservative" ("Fleurs du Mal") und nicht zuletzt der von allen Materialmontagen ausgehende Appell an die Berührungslust des Betrachters bringen das virile Machtstreben um sein falsches Ansehen. Diese vielseitigen Karikaturen biegen das selbstherrliche sexuelle Prestige des Mannes zu Metaphern seines Versagens um. Sie entwaffnen aber auch im Hinblick auf das gewöhnliche Ziel, das hinter der Strategie männlicher Annäherungsversuche, aufmunternder Zoten und Witze die Frau erwartet: der tiefernste, von Schweiß triefende Koitus.
Die Utopie eines zärtlichen Umgangs mit der Welt und den Menschen ist der jetzigen Realität diametral entgegengesetzt. Lärm läßt Stille nicht aufkommen, und Stille brauchen wir, wenn wir den leisen Stimmen in und um uns lauschen wollen. Hast läßt kein Verweilen zu, und so fehlt die Zeit, um etwas ruhig aufzunehmen oder weiterzugeben. Gier jeder Art verhindert, daß wir uns einander behutsam nähern und berühren. Eine Atmosphäre der Gewalt breitet sich mehr und mehr aus. Sie fördert die Sucht nach gröbster Triebbefriedigung. Mancher maßt sich an, alles dafür verfügbar machen zu können. Die Folgen sind ihm gleichgültig. Wer sich da heraushalten möchte, hat es schwer. Isoliert er sich, so ist es ihm nicht mehr möglich, seine Gedanken und Gefühle auszutauschen, und er läuft Gefahr, zu verkümmern. Gibt er auf und paßt sich der Masse an, wird er erst recht kontaktunfähig, weil er seine Identität nicht mehr spürt. Echte Kommunikation setzt ein Ich und ein Du voraus, den ganzen Menschen mit Körper, Geist und Seele oder, wie Renate Bertlmann es nennt, "das denkende Lieben, das liebende Denken".
Diese auf Nähe und Respekt beruhende Kommunikation braucht offene, aufeinander zutretende Menschen, denen jede Art von Gewalt fremd ist und Herrschergelüste abgehen. Jetzt aber sind Verletzte und Getötete an der Tagesordnung. Eine Gesellschaft, in der alle einander achten, ist Zukunftsvision, Utopie. Darauf hinzuarbeiten bedeutet kämpfen, mit Liebe kämpfen gegen das, was tötet. Der Tod kommt aber unausweichlich auf uns zu. Es gehört zur rätselhaften Antinomie unseres Daseins, daß es Menschen - wie etwa Ellas Canetti - gibt, die diesen aussichtslosen Kampf gegen den Tod auf sich nehmen. Für Canetti ist der Tod ein "Gegner, der uns ein ganzes Leben lang dazu auffordert, im Widerstand gegen ihn das Eigenste zu entwickeln". Das Sehnen nach etwas Dauerndem, dem der Tod nichts anhaben kann, nach unzerstörbaren Leben, ist tief in uns verankert Es gibt keinen Kult und keine Religion, die sich mit dem Tod als endgültigem Schluß des Daseins begnügten. Tod ist zwar immer Vollender des irdischen Lebens, aber zugleich auch Durchgangsstation zu einem andern, unbekannten Leben.
Dennoch macht der Tod Angst. Wir fürchten uns vor dem Ungewissen, obwohl für uns das einzig Gewisse unser Tod ist. Er nimmt uns die letzten Zweifel an unserer Existenz als einmaliges Wesen. Angesichts des sicheren Todes erhält die kurze Zeitspanne unseres Daseins ungeheures Gewicht, das zu ertragen uns nur die Liebe hilft. Sie befreit uns von Furcht, bringt uns einander nahe, hebt Trennendes auf und verbindet uns. Sie schafft zwar den Tod nicht aus der Welt, sie ermöglicht es uns aber, ihn zu akzepteren, indem sie aus bewußtem Sein heraus handeln und aus der Angst vor dem Tod als dem letzten, schmerzvollsten Ausgesetztsein kompromißlosen Mut wachsen läßt. Es ist der Todesmut einer Kassandra, die sich mit ihrer Wahrheit gegen alle falsche Hoffnung stellt, oder der Todesmut einer Antigone, die in ihrer Treue zu den Geboten der Götter dem Willen des Königs zum Trotz ihren Bruder bestattet. Es ist dieser grenzenlose Mut, den die Utopien der Liebe verlangen.
Die Arbeiten Renate Bertlmanns sind Schritte auf dem Weg dazu.Sie enthalten die Härte des Kampfs in läuternden Übungen. Sie zeigen die mit Innen- und Außenwelt verbundenen Paradoxe und Polaritäten. Sie weisen auf mystische Erfahrungen in den Bereichen von Liebe, Leben und Tod hin, wie sie Angelus Silesius in seinem "Cherubinischen Wandersmann" in knappsten Versen formuliert
"Der Mensch hat eher nicht vollkomm'ne Seligkeit,
bis daß die Einheit hat verschluckt die Anderheit".
"Der Tod, aus welchem nicht ein neues Leben blüht,
der ist's, den meine Seel' aus allen Toden fliehet".
In ihren mehrteiligen SW-Fotoarbeiten RENÉE ou RENÉ bedient sich Renate Bertlmann der Fotosequenz, einer Verfahrensweise, mit deren Hilfe man Zeit- und Darstellungsabläufe vermitteln kann. Diese Möglichkeit inszenierender Fotografie gewinnt für die gesellschaftskritische Analyse von geschlechtsspezifischen Rollenposen eine besondere Bedeutung, die als künstlerische Selbstinszenierung verwirklicht wird. Mit einem Herrenanzug bekleidet wird eine weibliche Schaufensterpuppe umworben und verführt. Feministische Reflexion, Performanceelemente (als Selbstdarstellung) werden von Bertlmann zu einem fotografischen Rollenspiel inszeniert, zu einer Befragung männlicher und weiblicher Verhaltensmuster, die zwischen beiden Polen wechseln und diese enthüllen bzw. entschlüsseln. Bereits in den 70er- Jahren hat die Künstlerin sich intensiv den Themen Sexualität, Rolle und Stellung der Frau, Beziehung zwischen den Geschlechtern angenommen. Ihre Ausdrucksmittel reichen dabei von Performance, über Objekte, Zeichnungen, Malerei, Texte bis hin zu Fotografie.
Carl Aigner, 1991
Das Wechselverhältnis von Eros und Thanatos steht im Zentrum der ästhetischen Investigationen Renate Bertlmanns. Getreu dem Motto "Amo ergo sum", unter welchem die Wiener Künstlerin seit den frühen Siebzigerjahren ihr gesamtes Schaffen subsumiert, visualisieren ihre opulenten, im sensiblen Grenzbereich zwischen Kitsch, Kunst und Tabu angesiedelten Inszenierungen diese zeitlos aktuelle Thematik auf gleichermaßen phantasievolle wie hintersinnige Weise. Der Komplexität des Vorwurfs entsprechend ist das umfangreiche Werk als Trilogie angelegt, deren gleichwertige Teile mit den Untertiteln Pornographie, Ironie und Utopie bezeichnet sind. "Die Pornographie befasst sich im engeren und weiteren Sinne mit dem Krieg der Geschlechter, den Tätern und Opfern und den vielen weiteren Facetten des nackten Überlebens. Die Ironie spürt den in der Kindheit verwurzelten Sehnsüchten und Aggressionen nach und versucht mit den dabei aufkommenden Lust- und Ekelgefühlen fertig zu werden. Die Utopie gibt sich nicht, wie man vielleicht meinen könnte, Zukunftsvisionen hin, ganz im Gegenteil, sie pflastert den Weg ins Ungewisse mit schweißtreibenden Exerzitien wie Askese, Versagung und Übungen im Sterben" (Renate Bertlmann, 1989). Ursprünglich aus dem Bedürfnis resultierend, die zahllosen Hervorbringungen einer überbordenden Kreativität zu ordnen, entpuppte sich die Trilogie rasch als anspruchsvolle Programmatik, die bis heute nichts an Aktualität und Notwendigkeit eingebüßt hat. So mächtig und bedeutend die einzelnen Elemente für sich auch erscheinen mögen, so durchdrungen und abhängig sind sie voneinander. In allen Facetten des Bertlmannschen Produzierens erscheint die Pornographie ironisch und utopisch, die Ironie utopisch und pornographisch sowie die Utopie pornographisch und ironisch. "Amo ergo sum" zielt aus einer explizit weiblichen Perspektive in einer nach wie vor patriarchalen Gesellschaft auf "Selbstbehauptung und ein auf Kommunikation gerichtetes Selbstbewußtsein. Es bedeutet Gleichwertigkeit von Körper, Seele und Geist in einer sich durchdringenden, unteilbaren Ganzheit." (Maria Vogel, 1989)
Wenn Renate Bertlmann in ihren plastischen und malerischen Inszenierungen, die stets in einer zweiten Arbeitssequenz mit den Medien Film und Fotografie analysiert werden, den Trivialmythen des Begehrens nachspürt, nimmt sie überkommene moralische und soziale Traditionen ins Visier. Nicht nur strukturell verweist das Gesamtkonzept auf die Dreifaltigkeit, jenes christliche Herrschaftssymbol eines männlichen Dreigestirns. Auch inhaltlich wird Aspekten der Geschlechterdifferenz und der Funktion von Rollenklischees größte Bedeutung zugemessen. Mit lustvoller Geste demontiert die Künstlerin die Insignien männlicher Macht und Herrlichkeit. Sie beschreibt aber auch die Kraft der Sehnsucht und verleiht der Vorstellung von einer gelingenden zwischengeschlechtlichen Kommunikation Gestalt. Nicht zuletzt imaginiert sie Empfindungen der Scham in Bildern, die unmittelbar alle Sinne anrühren und erkundet die sinnliche Faszination, die im Wechselspiel von Distanz und Näherung steckt.
Revisionen zum Werk Renate Bertlmanns (2008) (PDF)
Beim Eintritt in ihr Atelier gibt es einen Diéjà vu-Effekt: in den Sechzigerjahren gab es die so genannten "Stores" amerikanischer Pop- und Happeningkünstler - ich denke an Carolee Schneemann, aber auch an Claes Oldenburg. Dabei tritt auch ein Verdachtsmoment auf: ist Renate Bertlmann immer noch zu amerikanisch in ihrem Frühwerk, weil die Resonanz und Nachfrage von Galerien und Kunsthallen in Wien zu gering ist? In der Tat ist sie nicht zu Unrecht von jüngeren Künstlerinnen wie Carola Dertnig als "Mother of Invention" der feministischen Performancekunst gefeiert worden. Doch die österreichische Kunstszene ist träge, zäh, es bewegt sich wenig und das Werk von Renate Bertlmann hat noch zwei andere Punkte sehr früh berührt, die miteinander zusammenhängen: Ambivalenz und Kitsch. Diese Methoden sind in der Kunstszene hierzulande bis vor wenigen Jahren praktisch nicht oder nur kaum verankert. Das heißt, es gibt viele Tendenzen, die in ihrem Werk Jahrzehnte früher auftraten, teilweise ungehört verhallten und durch den oft ephemeren Charakter der Performance nicht in die Kunstgeschichte eingeschrieben wurden. Dazu gehört neben der von ihr immer genützte Ambivalenz, das "Reißen des roten Fadens" und die Gabe der Revision.
Eine ihrer Taktiken dabei ist lustvoll Lieblich-Peinliches aus pornografischen Utensilien, Brautkleidern, Schnullern, Herzen und Gartenzwergen zu machen. Der vom konzeptuellen Denken vielfach weiß gewaschene Kunsttheoretikerklügel sieht in diesen Werkzeugen des Trivialen immer noch die Feindbilder seiner eigentlichen Bildverweigerung und ergreift panisch die Flucht. Es wäre gut möglich, die von der Künstlerin gewählte Dreieinigkeit für ihre Werkblöcke - Pornografie, Ironie und Utopie - mit einem Titel wie "St(r)ammhalter im Bru(s)tkasten" zu umschreiben. Wie der von Louise Bourgeois geliebte, auf Robert Mapplethorpes Fotos unterm Arm getragene skulpturale Penis, "La Fillette", hat auch Bertlmann den von Sigmund Freud geschürten Irrtum vom weiblichen "Penisneid" - unter anderem - mit schrillen Puppenkleidern über dem Dildo aus dem Pornoshop, dabei vor allem übergroße schwarze Exemplare, beantwortet. Oder der große Pimmelbruder wurde zur Mumie umwickelt und in die den Brutkasten ersetzenden Vitrine gelegt: "Corpus impudicum arte domitum". Subversiv an die Tabugrenzen "anecken" ist Bourgeois und Bertlmann gemein wie die oft durch Verkleidung oder Verwandlung, Perversion und Dekonstruktion errungenen Fragen nach Identitäten, wobei die weiblichen Geschichten sich nicht anklagend an ein Gegenüber richten - auch die männliche Sicht des "Anderen" ist grundsätzlich als Gesellschaftskritik einbezogen. Amerikanisch ist aber vor allem die interaktive Kommunikation mit dem Publikum, die von Anfang an in ihre Performances einbezogen waren. Das bedeutet, Bertlmann nützt nicht nur ihren Körper als Projektionsfläche weiblicher Identität und geht mit ihm und ihren teils aus Relikten bestehenden plastischen Werken in den Raum, sondern ihre Performances sind eigentlich Happenings. Die Besucher wurden viel stärker als von den männlichen Vertretern des Wiener Aktionismus aktiv eingebunden, mussten Geld in Klingelbeutel einwerfen, auf Teile des Kunstwerks schießen, tanzen, Rollstuhl schieben, sich eben einbringen. Bertlmann trat nicht nur mit internationalen VertreterInnen der Performanceszene bei Festivals in Bologna, Amsterdam oder Wien gemeinsam auf, die Begegnungen mit Gina Pane oder Ulay/Abramovic prägten auch ihre Arbeit in Richtung einer internationalen Entwicklung des Aktionismus.
Inszenierte Subjektivität in den Fotofilmen Renate Bertlmanns (PDF)
Das Wahre kopieren kann ganz gut und recht sein;
aber das Wahre erfinden ist besser, sehr viel besser.
(Giuseppe Verdi)
In einem leichtfüßigen Balanceakt zwischen Ironie und behutsamer Spurensicherung stellen die Fotofilme Renate Bertlmanns die Wirklichkeit der Bilder zur Diskussion. Seit 2001 befasst sich die Künstlerin, nach vielfuml;ltigen Experimenten mit Performance, Installation, Objektkunst sowie inszenierter Fotografie, auch mit dem Medium Fotofilm. Dieses hybride Zwitterwesen bedient sich der Bildstrategien von Fotografie und Film gleichermaßen und verdichtet fotografische Momentaufnahmen mit den Mitteln der Animation und Überblendung zu filmischen Sequenzen. Durch die Verschmelzung der beiden unterschiedlichen Bildformen, dem Stillbild, in welchem Zeit und Bewegung eingefroren erscheinen und dem Film, dessen Eigenart in der Organisation von Zeit und Bewegung begründet ist, entstehen künstlerische Kleinodien, deren unkonventionelle Bildideen neue Sichtweisen eröffnen und einen großen Interpretationsspielraum zulassen.
Die Begeisterung für das Genre, dessen Geschichte mit Alain Resnais' Künstlerbiografie "Van Gogh" aus dem Jahre 1948 beginnt, in welchem Ausschnitte aus Gemälden zu einer Erzählung kompiliert werden, gründet wesentlich auf der enormen Gestaltungsfreiheit, die es bietet sowie den faszinierenden technischen Möglichkeiten. Wie Film und Video ist auch der Fotofilm von der Apparatur abhängig und an die Fortschritte und Entwicklungen der digitalen Bildbearbeitungsprogramme gebunden. Allerdings erlaubt er eine, im Gegensatz zu den aufwändigen Produktionsabläufen beim Film, direktere, unmittelbarere und billigere Herstellung. Die Arbeit mit Kamera und Computer kann von einer einzigen Person geleistet werden, sodass im Idealfall die gesamte Gestaltung vom Konzept über die Bildfindung bis zum Sounddesign aus einer Hand stammt. Als künstlerisches Ausgangsmaterial können unterschiedlichste Fotografien herangezogen werden: gefundene oder neu produzierte Bilder, inszenierte Fotografie oder Schnappschüsse. Ausschlaggebend ist ihre visuelle Qualität, die durch Hell-Dunkel- Kontraste, Räumlichkeit, Fläche und Kontur, Harmonie oder Dynamik bestimmt wird. Die Umwandlung vom statischen Einzelbild in einen bewegten Bilderfluss passiert durch Überblendung und Animation, wobei der Übergang zum Videoclip fließend ist. Dieses Verfahren bewirkt zudem, dass der Standpunkt der Kamera fixiert erscheint, als wäre der künstlerische Blick von einem bestimmten Punkt auf das Geschehen gerichtet. Das verleiht dem Fotofilm einen gleichermaßen subjektiven wie theatralischen Charakter und verwischt die Grenzen zwischen Dokumentation und Inszenierung. In komprimierten Erzählungen werden Erfahrungsräume konstruiert, wobei die Durchdringung von Realität und Virtualität und das Wechselspiel von visueller Überforderung und ästhetischer Konzentration die Wahrnehmung irritiert und sensibilisiert.
Die Forderung nach Selbstbestimmung und Befreiung von Zwängen, die in allen Bereichen des Lebens von Frauen in den 70er Jahren eingefordert wurde, machte auch vor der Kunst nicht Halt. Es ging dabei vorwiegend um das Bild der Frau in der Kunst, das bis dahin - bis auf wenige Ausnahmen - ein Bild des Mannes von der Frau gewesen war. Es ging darum, ein Bild der Frau von der Frau zu entwickeln, das es noch nicht gab. Die Suche nach einem künstlerischen Ausdruck für die Forderungen und das neue Selbstverständnis der Frauen ging dabei Hand in Hand mit einer Innenschau und einem Erkunden, was und wie dieses neue Bild ist. Die Offenlegung gesellschaftlicher Bedingungen und Zwänge, die Dekonstruktion traditioneller Bildentwürfe, Fragen nach Identität, die Erkundung des eigenen Körpers und der eigenen Sexualität und die Forderung nach Selbstbestimmung über diese bestimmten die Suche nach formalen und inhaltlichen Möglichkeiten abseits der tradierten patriachal geprägten Darstellungsformen.
Renate Bertlmann zählt zu den konsequentesten Künstlerinnen österreichs, die diesen Weg in den 70er Jahren einschlagen. Ihre Werke umkreisen den Themenbereich Liebe - Eros - Sexualität. Sie beleuchtet die innersten Bereiche der weiblichen Psyche, macht sie öffentlich und setzt sie in einen gesellschaftlichen Kontext. Aus einer dezidiert weiblichen Perspektive stellt sie Sehnsüchte und Empfindungen dar, thematisiert den Kampf der Geschlechter, demaskiert die Gesellschaft als eine von einer männlich geprägten, fetischbesessenen Sexualität bestimmte und schlüpft in unterschiedliche weibliche wie männliche Rollen, um Identitäten aufzuspüren und auszuloten. Ambivalenz prägt den Themenkomplex ihrer Arbeiten: Zärtliches steht neben Aggressivem, Wollüstiges neben Asketischem, Weibliches neben Männlichem, Todernstes und Hintergründiges neben einem entlarvenden, bisweilen beißenden Humor. Und zeitweise geht das Eine ins Andere über oder verschmelzt mit ihm.
Nebeneinander entstehen Werkgruppen, in denen die Künstlerin unterschiedliche Aspekte zum Thema beleuchtet und die ihr Oeuvre durch Herausbildung einer übergreifenden Ikonografie zu einem zusammenhängenden, immer komplexer werdenden System anwachsen lassen. Zeichnungen entstehen neben Objekten, die sie für inszenierte Fotografien und Performances wieder verwendet.
Die eigentliche Aufgabe des heutigen Archivars (ist) nicht mehr die Pflege von
Sammlungen, sondern die Ausarbeitung von Gesichtspunkten und Strategien ihrer
wohlüberlegten, gewiss partiellen, jedoch ebenso sicher irreversiblen Zerstörung.
Hans Ulrich Reck
Überbordende Schaffenskraft, ein schier unerschöpflicher Einfallsreichtum und der ungebrochene Wille zum Experiment zählen zu den Markenzeichen Renate Bertlmanns, die seit den frühen 70er Jahren als eine internationale Pionierin der feministischen Kunst gehandelt wird. Ihre Lust an der Invention zeitigte, im Verein mit augenzwinkernder Distanz zu den bildkünstlerischen Traditionen, ein kritisch-ironisches, zeit- und gesellschaftskritisches Oeuvre, in welchem die unterschiedlichsten Medien zum Einsatz kommen. Von den Anfängen bis zur Gegenwart stehen Performance und Installation gleichberechtigt neben Objektkunst, Malerei und Grafik sowie Fotografie, Film und Video, wobei die Auslotung neuer Ausdrucksformen in den Grauzonen zwischen den klassischen Gattungen immer wieder zu Neufindungen, wie etwa den Fotofilmen der letzten Jahre führte. Um die Fülle dieses gleichermaßen vielschichtigen wie vielseitigen Schaffens zu erfassen, entschloss sich die Künstlerin zur Erarbeitung des nun vorliegenden digitalen Werkverzeichnisses, das erstmals alle künstlerischen Beiträge listet und darstellt.
Der Weg vom im Zuge der Website-Erstellung gefassten Entschluss bis zur Umsetzung war steinig. Das dafür notwendige Procedere hat sich über Jahre erstreckt und erwies sich als ebenso aufwändig wie aufschlussreich: Die Mühen des Sammelns und Sichtens, des Recherchierens und Dokumentierens, des Sortierens und Katalogisierens ließen die Künstlerin nicht nur vor der Komplexität des eigenen Oeuvres erschaudern, sondern konfrontierten sie auch mit Fragen, die sonst der professionellen Kulturarbeit überantwortet werden: Wie sind die (eigenen) Schöpfungen zu kategorisieren? Nach welchen spezifischen Gesichtspunkten kann und soll strukturiert werden? Was will die Repräsentation eines Lebenswerkes im digitalen Medium für die öffentliche Wahrnehmung leisten, wo doch die Bereitstellung schier unendlicher Speicherkapazitäten alle herkömmlichen Vorstellungen von Erinnerung und Vergessen sprengt?
Die Präsenz der Werke im virtuellen Raum entreißt die Setzungen den Archiven des Vergessens und verleiht ihnen einen Status der Ambiguität: Als digitale Dokumente existieren sie gleichberechtigt nebeneinander. Sie sind dem raum-zeitlichen Zusammenhang ihrer Entstehung enthoben, ihrer Authentizität entkleidet und jeder unmittelbaren, sinnlich- stofflichen Erfahrbarkeit entrissen. Reduziert auf eine symbolische Präsenz ermöglichen sie indessen einen ungekannten Umgang mit den Bildern. Diese avancieren – sofern sie sich der Ressource öffentlicher Aufmerksamkeit versichern können – zu potentiellen Objekten eines Zugriffs durch Dritte, die sich im digitalen Raum prinzipiell beliebig manipulieren lassen. Trotz allem aber bleiben die digitalen Daten Bezugspunkte, die auf ein abwesendes und in seiner Ungreifbarkeit auratisiertes Originalwerk verweisen und somit als Platzhalter Begehrlichkeit erwecken wollen.
Somit ist Renate Bertlmann mehr als nur eine Bestandsaufnahme ihres bisherigen Schaffens gelungen. Der opulente Bilderbogen, an dem der Wechselgang ihrer künstlerischen Entwicklung mit all seinen Anstrengengungen, Irrungen und Erfolgen ablesbar ist, schreibt nicht nur ein Stück feministischer Kulturgeschichte, er ist darüber hinaus noch ein raffiniertes Marketinginstrument in Sachen Kunst.
Edith Almhofer, 2.12.2010
zur Präsentation ihrer DVD Amo ergo sum Works 1972-2010
in der Secession, Oktober 2011 (PDF)
Wie die DVD Präsentation zeigt (noch mehr als die Katalogtrilogie von 1989 bei Ritter und der Katalog der Fotogalerie 2002), gilt Renate Bertlmann seit Beginn ihrer Künstler_innenlaufbahn als multiple Spielerin auf verschiedenen Ebenen (inhaltlich) und in wechselnden technischen Medien seit 1970 und ihren körperlichen Einsatz in öffentlichen Auftritten und in der Inszenierung im Atelier. Die übertragung von skulpturalen Ansätzen in Installation und Objekt, kombiniert mit theatralischen Abläufen, zuweilen auch mit Einsatz von Musik und Geräusch mittels Tonband zur Tonraumskulptur, war nach dem Beginn um John Cage und den japanischen Gutai, aber auch Yoko Ono, neu im Europa der 70er Jahre. Völlig überraschend, zuweilen anstößig wurde dies in österreich empfunden, wo sich Aktionismus und Happening ab 1958 mit George Mathieu, der "Wiener Gruppe" und Prachenskys wie Nitschs mit der Urszene des Theaters vernetzten Bildschüttungen und Selbstbemalungen (Brus) nur schwer etablieren konnten. Noch schwerer war es für den feministischen Part des Wiener Aktionismus, der mit Renate Bertlmann auch die Züge des Happenings eines Allan Kaprow oder Wolf Vostell nach Wien brachten. Partizipieren des Publikums, ein seit 1945 aktueller Bereich der animistischen ästhetik (siehe aktuelle Ausstellung der Generali-F), ist vor allem von den Künstlerinnen (Philipp, Bertlmann, Weibel, Export, Christanell etc.) vollzogen worden.
Sehr zäh geht das - mit Verspätung in den hiesigen Museen bis heute - und fast nur durch die künstlerische Forschung ins allgemeine Bewusstsein über. Trotz der Ausstellung "Mothers of Invention" und Publikationen von Carola Dertnig, trotz hoher Aktualität der Bertlmannschen Werke bei jungen Künstlerinnen von Anna Jermolaewa über Andrea Kalteis bis Geschwister Odradek, ist immer noch nicht allgemein bekannt, dass die "Streicheleinheiten" oder Schnullerkränze und Phallusobjekte (etc. aus Latex oder Schaumstoff, Plexi und Tüll, Flitter) zum Anlegen an den Körper die "Passstücke" eines Franz West vorweggenommen haben. Bertlmann gilt eher in der inszenierten und erweiterten Fotografie als ernst zu nehmende Pionierin (Gründung der Fotoinitiative Fluss kommt da hinzu), in gewisser Weise auch bei Objektkunst und erweitertem Kunstbegriff insgesamt. Ihren körperlichen Einsatz in der Performanceszene sollte aber langsam genauso bekannt sein wie "Aktionshose Genitalpanik" von Export. Heute ist die Methode des Durchbrechens Logos-männlich/Mythos-weiblich längst vollzogen, für die Export, Sieverding, Abramovic, Pane, Jürgenssen oder Bertlmann gekämpft haben. Die junge Generation konnte manche Lorbeerblätter weiterverwenden. Doch ist Lamentieren über einen nicht erreichten Hype der Aktionistinnen völlig unangebracht, denn die Kunstgeschichte wird jeden Tag neu geschrieben und die DVD könnte wieder etwas ändern an der zähen Erweiterung einer eng gefassten, undemokratischen und immer noch sehr elitären Kunstgeschichtsschreibung hierzulande. Ich darf da an Christian Krawagna erinnern im Kremser Künstlerinnenkatalogtext von 2003: jedes Jahrzehnt in österreich lässt nur eine Frau als große Neuentdeckung zu... .
Im Zentrum von Renate Bertlmanns ästhetischen Untersuchungen steht das Verhältnis von Eros und Thanatos. Ihr umfangreiches künstlerisches Werk ist unter dem Titel AMO ERGO SUM als Trilogie angelegt, deren gleichberechtigte Teile Pornographie, Ironie und Utopie betitelt sind. Ihre Arbeit dreht sich um die Themen Liebe, Erotik und Sexualität. Sie wirft ein Schlaglicht in die innersten Be reiche der weiblichen Psyche, macht sie öffentlich und stellt sie in einen gesellschaftlichen Zusammenhang. Aus prononciert weib - licher Sicht stellt Bertlmann Wünsche und Gefühle dar, spricht vom Geschlechterkampf, demaskiert die Gesellschaft als geprägt von einer männlich bestimmten, fetischversessenen Sexualität und übernimmt verschiedene männliche und weibliche Rollen, um unterschiedliche Identitäten aufzuspüren und zu erkunden.
Die gleichwohl verhängnisvolle Ironie, dass der entblößte Penis aus unserer Kultur weitgehend abwesend, der Phallus in seiner symbolischen Form hingegen allgegenwärtig und als Machtstruktur dominant ist, hat schon Analytiker von Sigmund Freud bis Jacques Lacan und darüber hinaus beschäftigt, deren Arbeit sich von der psychoanalytischen Praxis bis zur Untersuchung kultureller Neu - rosen erstreckt. Für eine Künstlerin wie Renate Bertlmann, in Freuds Heimatstadt geboren und arbeitend, wirft das Vorherrschen solcher aus der psychischen Sublimierung der körperlichen Unterscheidungs - merkmale zwischen den Geschlechtern entstandener kultureller Mythen die Frage auf, wie man der Falle der freudianischen Ortho - doxie entgeht und doch der nachweislichen Phallokratie in der westlichen Kultur Ausdruck gibt. Bertlmann artikuliert eine konkrete gesellschaftspolitische Realität und genauso ein kulturelles Klischee, mit dem viele Feministinnen konfrontiert sind. Ein offensichtlicher Verfahrensschritt für sie bestand darin, den Penis zu entblößen, um der Phallussymbolik entgegenzutreten (Neb.abb.), männliche Glieder zu zeigen, um die misogyne Exklusivität des Mit-Glied-Seins zu demonstrieren. 1975 begann sie Schnuller- und Kondomarbeiten in großer Zahl zu machen: aufgeblasene Kondome, die sich in Glas - kästen leicht berührten, nebst Anleitungen zum Wiederauf blasen für den Fall, dass sie »abschlaffen«; Schnullermatten und Objekte mit eingedrückten und hervorstehenden Gumminippeln, die sich als weibliche oder männliche Genitalien deuten lassen; die Foto grafie - serie und den Film Zärtliche Berührungen (Tender Touches) (Abb. x, S. #), die die aufgeblasenen Enden zweier einander liebkosender und schließlich penetrierender Kondome zeigten.
Durch Analysen von Sexualpathologien aufrechterhaltene kulturelle Mythen verschafften Künstler_innen vielerlei Bezüge. Die Surrealisten etwa hatten Freuds genitale Hierarchie von Kastrationsangst und Penisneid hergenommen und in (künstlerische) Diskurse transponiert, die sich auf das weibliche Geschlechtsteil in allen seinen Formen konzentrierten und das männliche verbargen: Männer in Anzügen zogen weibliche Kleiderpuppen aus, förmlich gewandete männliche Bourgeois erträumten sich nackte, nymphengleiche Straßenmädchen. In zwei Fotosequenzen von 1977 kehrt Bertlmann diese Tradition um und macht die Abwesenheit des Penis zu einem Teil einer histori - sierten Erzählung. Renée ou René 2 (Abb. x, S. #) zeigt die Künstlerin in Anzug und Stiefeln, wie sie eine weibliche Kleiderpuppe erst küsst und dann nackt auszieht und am Ende den Kopf zwischen den Beinen der Puppe begräbt. Die künstlich gealterten Schwarz-Weiß-Foto - grafien, die altmodische Kleidung von Puppe und Künstlerin setzten die Serie in offenkundige Beziehung zu surrealistischen Fotografien der 1930er-Jahre von Man Ray, Wols oder Brassaï, während sie den gewohnten Geschlechts unter schied zwischen dem Subjekt und dem Objekt von Eros und Sex scheinbar auslöschen. Anstelle des männ - lichen Künstlers paarte Bertlmann das weibliche Objekt – die hergerichtete Puppe – mit einem weiblichen Subjekt – der Künstlerin –, die ihre geschlechtsbezogene Rolle spielte. Bertlmann ist, wie die hohen Absätze und das Haar unter dem Barett erkennen lassen, nicht als Mann verkleidet, vollzieht aber die Rolle eines Mannes, der in der Tradition der Surrealistin die absolute Objektifizierung der Frau durch seine Kunst subjektiviert. Seine Fotos, Assemblagen oder Installationen mit der Gliederpuppe waren als ironische Kommentare zu einer Warenkultur intendiert, die ihre Sexualpathologien durch Objekte zur Schau stellte, die, einst für den Konsum angeboten, mittlerweile jedoch bloße Phantome der Vergangenheit, sich in eine künstlerische Kritik einbauen ließen. Was aber, wenn das Subjekt von Eros und Sex, der höchst subjektive Künstler, sich als weiblich erweist? Dem Fehlen des Geschlechts an der Puppe (selbst die Brüste sind nur als weiche Formen angedeutet) entspricht das Fehlen des Penis bei der Künstlerin; allerdings betrifft die Kastra - tionsangst angesichts des ungeformten Genital bereichs die nicht, die selbst keinen Penis hat und zudem die Symbolkraft des Phallus zurückweisen muss.
Laudatio
auf Renate Bertlmann
anläßlich der Verleihung des Grossen Österreichischen Staatspreises (PDF)
Sehr geehrter Herr Minister,
sehr geehrte Renate Bertlmann,
sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen,
sehr geehrte Damen und Herren
liebe Freunde,
Mit Renate Bertlmann erhält eine in Vergangenheit und Gegenwart kontrovers diskutierte, um nicht zu sagen umstrittene Position den Grossen Österreichischen Staatspreis. Ihre Kunst erscheint mir ebenso singulär wie beispielhaft. An dieser Kunst läßt sich nicht nur die Entstehung neuer Kunstformen in der zweiten Hälfte des 20.Jahrhunderts ablesen, sondern auch, daß und wie solches Entstehen fundamental gegendert ist. Ich möchte Renate Bertlmann als herausragende Vertreterin feministischer Kunst bzw. der feministischen Avantgarde (nach einer Begriffsprägung von Gabriele Schor) würdigen. Mit Renate Bertlmann wird auch eine Phase der jüngeren Vergangenheit wieder ins Visier genommen, d.h. diese Würdigung ist zugleich die Ankunft der Avantgarde in der Gegenwart. An den Anfang meiner Laudatio stelle ich ein Stenogramm der Umstände, der Geschichte, der Besonderheiten und der Leistungen von Frauen in der Kunst des 20.Jahrhunderts. Für die meisten von Ihnen, meine sehr geehrten Damen und Herren, dient dies nur der Auffrischung des Gedächtnisses. Sofern jedoch an dieser Geschichte immer noch weitergeschrieben wird, weitergeschrieben werden muss, scheint mir ein kurzer Rückblick nützlich. Diese Geschichte hat es nämlich als eine umfassende Geschichte, die die Kunst von Frauen einbezieht, das sei unterstrichen, die längste Zeit nicht gegeben. Der geschätzte Werner Hofmann beispielsweise hat in einem Vortrag auf dem Forum Alpbach vor neun Jahren einen aus seiner reichen Erfahrung und großen Gelehrsamkeit gespeisten Vortrag zur Kunst der Moderne und Nachmoderne gehalten – es kam keine einzige Frau vor. Darüber hinaus waren die von Hofmann erwähnten Künstler ausnahmslos Maler. Ihnen hatte er zugetraut, in der Kunst jene Setzungen zu machen, die dann verbindlich werden, ihnen hat er die Herstellung jener künstlerischen Ereignisse zugeschrieben, die dann zu Erkenntnisbausteinen für den analytischen Zusammenhang der Kunst werden. Das Problem liegt also nicht nur im Feld der Kunst, sondern auch in der Kunstgeschichtsschreibung und Kunsttheorie, die ihrerseits eher an der Schließung als an der Öffnung gegenüber Frauen festgehalten hat.
Frauen mussten sich also, nachdem sie zu Beginn des 20.Jahrhunderts nach und nach die Zulassung zu den Kunstakademien, also zur akademischen Schulbildung als Künstlerinnen erhalten hatten, zunächst aus der Unterstellung herausarbeiten, daß von ihnen sowieso nur Epigonales zu erwarten sei. Das gelang ihnen im Übrigen recht schnell. Bis zum Beginn des Ersten Weltkrieges waren viele Künstlerinnen hervorgetreten: Valie Wieselthier, Erika Klien, Elena Luksch-Makowsky, Gabriele Münter, Paula Modersohn, Camille Claudel und andere, manche werden jetzt erst ans Licht geholt. Die Frauen waren dabei, sich ihren Platz in der Kunstwelt zu sichern. Aus Gründen, die im Einzelnen darzulegen hier nicht der Ort ist, ist die Kunstgeschichtsschreibung extrem träge oder gar nicht auf die Künstlerinnen und deren Verdienste eingegangen. Das Drama der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts ist das von the rise and the fall of women artists. Es hatte nicht schlecht begonnen. Aber allmählich wurden die Spielräume der Frauen wieder enger, das Diktat verschärft, die Autonomie eingegrenzt. Bereits während des Ständestaates wurde die Möglichkeit von Frauen, zu arbeiten und Geld zu verdienen, eingeschränkt. Während des Krieges kommen selbstverständlich keine weiblichen Künstlerinnen heraus, wenn sie nicht regimetauglich sind, man denke an Leni Riefenstahl, die Film und der Photographie propagandatauglich verwendete. Nach dem Zweiten Weltkrieg ereignet sich eine Art postraumatischen Aufschub, es dauert, bis in den sechziger Jahren Analyse und Forderung so weit in Gang kommen, dass neue Visionen, neue Vorstellungen von Frauen selbst entwickelt davon werden, wie sie denn leben wollen, wie sie ihre Rolle verstehen. Es dauert wiederum, bis diese Vorstellungen in der Öffentlichkeit ankommen.
Tabuverstöße waren Triebfeder der Moderne und befeuern auch die Nachmoderne, wenn sie mit Sexualität und Nacktheit zu tun haben, verletzen sie staatliche Paragrafen (Blasphemie- oder Pornografie-Verdacht) oder gesellschaftliche Anstandsvorschriften in Bezug auf Schwangerschaft, Tod, Ehe und Umgang mit Versehrtheit. Sie stellen jedoch durch eine Annäherung von Pornografie- und Kitschverdacht Reinheitsgebote der Kunstelite bloß. Das betrifft das Objektrepertoire Bertlmanns aus dem Sexshop, gehüllt in glamouröse Verzierungen, Flitter und grelle Farbigkeit.
Die Kunst ist seit 1960 mit dem performativen Wandel („performative turn“) in neue Raumkonzepte und Blicktheorien eingetreten, die ab Futurismus und Dada ästhetische Traditionen und das Begriffsvokabular der Kunstgeschichte sprengten. Über die Herkünfte des Innovationsschubs kann in Felicitas Thun-Hohensteins Buch zur Performanz und ihren räumlichen Bedingungen gelesen werden - auch wie groß der Beitrag feministischer Künstlerinnen ist in Sachen neuem Körperdiskurs. Sie eröffneten urgeschichtliche Quellen (Schlagwort „kultureller Feminismus“, Matriarchatsdebatte und Rückkehr der „Großen Mutter“ ab 1970) und durch Anwendung neuer Medien (Fotografie, Video, Film, Performance) die Kunst vorantrieb. Bildhauerei wandelte sich in Objektkunst, mit Einsatz neuer, weicher Materialien und neben Institutions- und Konsumkritik forderten Künstler_innen mit ephemeren Auftritten einen veränderten Kunstmarkt.
Da mich die Biennalekuratorin bat, hier die Rezeptionsgeschichte von Renate Bertlmanns Werk zu besprechen, stellte sich die unangenehme Frage, warum 47 Jahre lang, ab 1969 mit der inszenierten Fotoserie „Verwandlungen“ bis zur ersten Personale von Gabriele Schor in der Sammlung Verbund 2016 nur wenig Werke der Künstlerin in Wiener Museen und Galerien zu sehen waren, von den Institutionen noch weniger angekauft wurden, die Vergabe des Preises der Stadt Wien an sie in Fachjurys Jahrzehnte zur Diskussion stand, Theoretiker_innen sich mit einer frühen Ausnahme (Peter Gorsen) nicht mit ihrem Werk befassten und Kunstkritiker_innen wenig und meist belanglos berichteten.
Die internationalen Orte, an denen Bertlmann performte und auch die Ausstellungen, an denen sie beteiligt war, können nicht der Grund gewesen sein, es begann 1974 mit Ausstellungen ihrer „Urvagina“ in Triest und 1977 mit der Performance „Deflorazione“ im modernen Museum in Bologna, setzte sich fort 1978 im Düsseldorfer Kunstmuseum, dem Franklin Furnace Kunstraum von Martha Wilson in New York 1980, dem Frauenmuseum in Bonn 1982, dem Stichting de Apple Center Amsterdam 1979, in bekannten Galerien in Luzern und Wuppertal, in Wien der St. Stephan- 1975 und Modern Art Galerie (mit Performance-Festival des Österreichischen Kunstvereins 1978), 1983 bei der „Anderen Avantgarde“ im Brucknerhaus Linz. 1984 folgte „Kunst mit Eigensinn“ im Modernen Museum (Zwanzigerhaus), kuratiert von Valie Export, Sylvia Eiblmayr und Cathrin Pichler, 1985 das Grazer Forum Stadtpark, 1986 die Münchner Landesgalerie und Villa Stuck. In den 1990er Jahren arbeitete Bertlmann dann verstärkt mit Fotografie und Film, im Team mit jungen Künstlerinnen wie Andrea Kalteis und Katharina Daschner, nutzte Stipendien. Es gab weiter Ausstellungen, doch erst mit Aufnahme erster Werkserien in die Sammlung Verbund 2010 durch Schor startete ihre internationale Karriere erneut, 2015 ist die Teilnahme an „The World goes Pop“ in der Tate Modern, London, zu nennen.
Das Lachen der Tragödie
Es kommt vor, dass mich plötzlich gewisse Figuren aus Renate Bertelmanns Theater zum Lachen bringen. Dabei sind sie doch scheinbar so ernst wie Päpste.
Unter all den Arten des Lachens geht es dabei um eine besondere Sorte Lachen1. Lachen darüber was ich im täglichen Leben nicht zum Lachen finde, das Lachen der Tragödie. Dies Lachen, das inmitten von Verzweiflung oder Grauen hervorschießt.
Ein widerständlerisches Lachen. So lang schon geht sie so, die Diktatur der Phallokratie, dieses weltweite Gewaltverüben, wie lang schon? Schon Immer. Seit der Zeit, seit es Zeit gibt2 ist sie zum Bodensatz des Denkens geworden, zur Menschheitsgeschichte und gibt vor, dass in ihr das eigentliche Wesen der menschlichen Gattung besteht, in dieser Allmacht, dieser kaiserlichen Gewichtigkeit.
Wohl hat es mehr als einen Revolutionsversuch gegeben, mehr als einen Tagesanbruch in der herrschenden Dunkelheit. Jedes Jahrhundert hat eine Protestbewegung, das Erschallen von Stimmen, eine heroische Revolte gekannt, alle fünfzig alle hundert Jahre schrecken Frauen aus dem Schlaf hoch, rufen einander dazu auf die Tempel, die Monumente, die Festungen aus den Angeln zu heben, stoßen laut Empörungsschreie aus, werden von der dienstfertigen öffentlichen Meinung und ihren repressiven Kräften verfolgt. Werden zurückgedrängt, eingesperrt. Ausgelöscht. Vertilgt. Fallen. Zerfallen zu Asche. Unter dem aschenen Schweigen schwelt die Revolte.
Unter dem Ausstampfen der Funke Wut. Und eines Morgens hundert Jahre später lodert der Elan wieder auf, die Revolte ist neu entfacht. Und wenn diesmal die Revolte den Sieg erränge, wenn sie vom Traum3 in Verwirklichung verwandelt würde? Wenn die Gerechtigkeit den Sieg davontrüge, das Leben endlich seine Möglichkeiten wahrnehmen könnte?
Wenn diesmal, sagen wir beispielsweise in den Frühlingen der Siebzigerjahre (1770, 1870, 19704, 2070?) der Phallus vom Thron gestürzt, in die Flucht geschlagen oder ihm einfach nur die Maske abgenommen würde, wenn er sich selber absetzte? Ja wenn Narziss, der sich über sich selbst beugt sähe, wie er sich selbstverliebt ansieht und sich plötzlich tödlich dabei langweilte immer nur in seiner eigenen Gesellschaft zu sein? Ja wenn ihm der Spiegel ein Selbstbildnis seiner-selbst als Phallus-selbst
Aber dieses ja wenn erleidet von Jahrhundert zu Jahrhundert 5 dasselbe verheerende Schicksal, es erhebt sich, schöpft Hoffnung, und verliert. Was gewinnt, falls da Gewinn besteht, was anwächst, ist die Mutlosigkeit. Mehr und mehr Energie, mehr und mehr Treue zur Lebensidee muss aufgebracht werden, um die Hoffnung und den Handlungswillen neu zu beleben. Je mehr Zeit verstreicht, desto tiefer und tiefer treibt der Phallus seine Wurzeln auf das Herz der Erde, desto höher und höher auf die äußersten Ränder der Universen zu.
Es gibt Momente auf dem Pfade des Schicksals wo die Müdigkeit unwiderstehlich wird, wo die Welt verschlossen scheint wie ein Konzentrationslager und die Seele auswegslos gefangen. Also setzt man sich auf einen Treppenabsatz. Und sagt sich: „Es ist aus. Die Menschen sind verrückt vor Liebe zum Hass.“[...]
Überqueren wir das Brücklein über den Rio dei Giardini, der die ersten internationalen Pavillons von den Neulingen der 1930er-Jahre trennt, und schlendern nach links, finden wir uns in einem etwas zerzausten Garten wieder, der Ruine von etwas Formellerem zwischen dem Kanal und den müden Fassaden einiger Länderpavillons. Wir halten auf der struppigen Wiese inne, den Blick auf eine scheinbar makellose leere Wand mit klarer Linienführung gerichtet, vor der in weiß- glänzender, metallener Handschrift die Worte AMO ERGO SUM schweben. Die Wand selbst schwebt im Garten mit einem großen gerahmten rechteckigen Loch in der Mitte, durch das wir einen roten Klecks erspähen. Bei näherer Betrachtung zerbirst der Klecks in separate rote Wölkchen und lässt einen geometrischen, mit überraschend hochgewachsenen Blumen übersäten Garten erkennen. Durchschreiten wir die Öffnung, so entpuppt sich der Garten auf der anderen Seite als präzise angelegter Raster, bestehend aus 312 Rosen, eine Art rote Armee, die unter gleißender Sonne Habtacht steht. Die einzelnen Blüten bestehen nicht aus zarten Blättern, sondern aus durchsichtigem, klumpigem, geronnenem Blutglas, gewaltsam durchstoßen von glänzenden Skalpellklingen. Oder haben die Blüten etwa die rasiermesserscharfen Klingen geboren? Nicht von Dornen beschützte Rosen, sondern Rosen, die selbst Dornen sind. Zärtlichkeit/Gewalt, Weichheit/Härte, Begehren/Abscheu, Sinnlichkeit/Aggression, Fläche/Kante, Kurve/gerade Linie, Vagina/Penis – all das verschwimmt hier oder purzelt in- und auseinander. Männliche und weibliche Stereotypen, die das Getriebe der zügellosen Grausamkeiten unseres Alltags sind, überlappen sich, werden invertiert und mit einer Art schmerzlicher Schönheit unterwandert.
In uns brodelt der unwiderstehliche Drang, diese verführerisch gefährlichen, auf derselben Höhe wie unsere Herzen schwebenden Blumen zu berühren, uns gar vorzubeugen, um an ihnen zu riechen, und nehmen dabei das Risiko in Kauf, uns zu schneiden. Aber eine Glasscheibe hält uns an der Schwelle zurück. Wir stehen zwischen den beiden Gärten, den öffentlichen Giardini und dem privaten Pavilloninnenhof. Die Architektur bietet keinerlei Schutz. Eigentlich ist der 1934 von Josef Hoffmann entworfene österreichische Pavillon kein Gebäude, sondern eine dünne, in die Giardini eingepflanzte Leinwand, die von Räumen gestützt wird, die als Galerien dienen. Die eigentlichen Räumlichkeiten befinden sich außerhalb des Baus und sind dennoch durch ihn bedingt. Der davorliegende öffentliche Garten war ursprünglich sehr formal gehalten, die Geometrie seiner Bepflanzung, Sitzgelegenheiten, Blumenbeete, Wiesen und Pfade lotste die Besucher_innen zu jener mit dünnen Längsrillen strukturierten Leinwand, die ihre Horizontalität hervorheben und sie wie ein schwebendes Tuch wirken lassen. Die Leinwand ist leicht erhöht, als wäre sie ein Ausstellungsstück oder als diente sie schlicht der Inszenierung der Öffnung, indem sie sie als Fenster erscheinen lässt, durch das man den kleineren Hofgarten auf der anderen Seite mit den dahinterliegenden Bäumen erblickt. Die Grasterrassen und die Stufen, die aus dem leichten Senkgarten heraufführen, verlaufen parallel zur Öffnung, sodass die Tiefenlinien genau durch sie hindurchgehen. Die Leinwand ist derart in die Geometrie der Bepflanzung integriert, dass sie Teil des Gartens zu sein scheint und den Garten selbst zu einem Innenraum macht, ein Effekt, der von der hinteren Baumreihe abgerundet wird. Anstelle ein zum Garten passendes Gebäude zu erschaffen, verwandelte Hoffmann den Garten selbst in eine Art Gebäude.